Geschichte des RGH
Aus historischer Sicht weist das Ravensberger Gymnasium einige Besonderheiten auf, die ihm auf der einen Seite ein Alleinstellungsmerkmal in der westfälischen Schullandschaft zuweisen, auf der anderen Seite geradezu exemplarisch schul- und gesellschaftspolitische Entwicklungstrends spiegeln.
Es lohnt, einen Blick auf die Geschichte der Schule zu werfen. Der Rückblick setzt mit dem Jahre 1868 ein, denn allgemein wird dieses Jahr als Gründungsdatum angesetzt. Die Schule wird also im Jahre 2018 ihre 150-Jahr-Feier begehen können.
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Das Ravensberger Gymnasium erhielt seinen heutigen Namen erst am 15. Mai 1954. Bis dahin hatte die Schule unter vielfältigen Bezeichnungen firmiert. Gebäude, Schüler, Lehrer des Ravensberger Gymnasiums hatte es aber auch zuvor gegeben, und ohne Mühe lässt sich eine klare Linie bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ziehen, genauer gesagt bis ins Jahr 1868.
In seinem Ursprung war das heutige Gymnasium eine „landwirtschaftliche Lehranstalt“, deren Hauptzweck darin gesehen wurde, die naturwissenschaftliche und technische Ausbildung der Söhne von Großagrariern zu verbessern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die industrielle Revolution mehr und mehr auch das „platte Land“ erfasst; bahnbrechende Erkenntnisse in den neuen Disziplinen Chemie oder Maschinenbau erlaubten nun eine rasante Steigerung der Produktivität im Agrarbereich – wenn man nur genügend gut ausgebildete Leute besaß, die in der Lage waren, die Bodenbeschaffenheiten exakt zu bestimmen, Mineraldünger gezielt einzusetzen und technische Hilfsmittel zu bedienen. Im preußischen Landwirtschaftsministerium erkannte man frühzeitig den Bedarf nach einer entsprechenden Ausbildungsstätte und beauftragte eine Findungskommission mit der Suche nach einem geeigneten Standort in Westfalen. Warum ausgerechnet Herford sich gegen die Konkurrenz vieler anderer Städte durchsetzte, ist heute im Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar. Sicher ist jedoch, dass sich die Stadt Herford den Zuschlag einiges hat kosten lassen und sehr viel Geld in die neue Schule und in die Bezahlung qualifizierter Lehrkräfte investierte. Manch (ein-)gebildeter Beobachter kritisierte die Höhe der Ausgaben für diese „Klutenschule“, die politischen Entscheidungsträger aber hatten die Zeichen der Zeit richtig erkannt und die Vorteile einer naturwissenschaftlichen Grundbildung zutreffend eingeschätzt. Von einer „Bildungsregion Herford“ sprach seinerzeit niemand, aber das große Engagement der Stadt hätte diese Bezeichnung allemal gerechtfertigt.
Das erste Schulgebäude (1868 bis 1896): Fachwerk in der Elisabethstraße (Quelle: Festschrift Ravensberger Gymnasium Herford 1960)
1896 markiert den zweiten großen Entwicklungsschritt. Seit der Gründung 1868 hatte sich die Schule deutlich weiterentwickelt. Im Gründungsjahr hatten 22 Schüler die Schule besucht (nach anderen Quellen waren es 46), gegen Ende des Jahrhunderts waren es bereits 200! Die Schule hatte ihre Daseinsberechtigung also mehr als nachgewiesen.
Den Großteil dieser Schüler stellten jetzt die Söhne aus den bürgerlichen Familien der Stadt und der näheren Umgebung. Entsprechend dominierte zunehmend das Ausbildungsinteresse der gewerblichen Bürgerschaft, das agrarische Element wurde mehr und mehr zur Randgröße. Folgerichtig veränderte sich das Profil der Schule, die sich jetzt offiziell in „Landwirtschafts- und Realschule“ umbenannte und einen allgemeinen Bildungsauftrag verfolgte. Im Stundenplan spielten neben Mathematik, Deutsch und den Naturwissenschaften auch die Fremdsprachen Französisch und Englisch eine große Rolle, die Lehrer besaßen nun überwiegend eine Universitätsausbildung, einige durften den Titel „Professor“ führen. Im heutigen Gebiet von Ostwestfalen gab es nur noch in Bielefeld eine zweite Schule von diesem Typ. Und wieder machte Herford seinem Ruf als Förderer der Bildung alle Ehre: Pünktlich zur Einrichtung der Realschule wurde das neue Gebäude fertig. Ein aus heutiger Sicht sündhaft teurer Backsteinbau in der Innenstadt, errichtet nach den modernsten bautechnischen und pädagogischen Erkenntnissen der Zeit, mit einer geradezu luxuriösen Innenausstattung. Dass sich die Stadtväter für das teuerste Baugrundstück der Innenstadt entschieden hatten, das Gelände zwischen dem Herforder Münster und dem Alten Markt, versteht sich fast von selbst ... . Zahlreiche Post- und Ansichtskarten verraten den Stolz der Stadt und ihrer Bürger auf diese neue Schule. Die 12 Klassenräume verteilten sich auf drei Stockwerke, hinzu kamen Fachräume für Chemie, Physik und Zeichnen sowie ein Karzer – so war sichergestellt, dass in der „Anstalt“ auch der Erziehungsauftrag konsequent durchgeführt werden konnte.
Besondere Erwähnung verdient die Aula, deren Stirnseite mit dem Monumentalgemälde des Berliner Künstlers Astfalck geschmückt wurde. Generationen von Ravensbergern haben allwöchentlich in dieser Aula gesessen und die „Brautwerbung Mathildes durch König Heinrich I.“ auf sich wirken lassen. Es ist dem rührigen Ehemaligenverein zu verdanken, dass dieses wahrhaft „kolossal“ zu nennende Gemälde nach einer aufwändigen Restauration in der alten Herrlichkeit wieder bewundert werden kann. Heute beherbergt das Schulgebäude die Volkhochschule und das Arbeitsgericht.
Das zweite Schulgebäude (1896-1960) im ehemailgen Abteigarten am Münsterkirchplatz (Quelle: "Ravensberger Gymnaisum Herford - Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Schule")
Der Sportunterricht führte noch einige Jahre ein Schattendasein – bis dann im Jahre 1911 endlich die langersehnte „Städtische Turnhalle“ auf dem Lübberbruch fertig wurde! Nach damaligem Verständnis waren damit optimale Bedingungen für die „Körperertüchtigung der männlichen Jugend“ geschaffen. Das Gelände zwischen Hansastraße, Mindener Straße und den Werregärten – also am heutigen Standort des Ravensbergers – war nahezu unbebaut und bot eine große Freifläche für allerlei athletische Übungen. In der neuen Halle, die in der einen Ecke dieser Freifläche stand, konnte nun unabhängig vom Wetter und auch im Winter geturnt werden – und ein guter Turner zu werden war das vornehmste Ziel der Körperschulung. An andere Hallensportarten, vor allem an Ballspiele, dachte vor 100 Jahren noch niemand.
Wer die „Turnhalle“ als fremder Betrachter wahrnimmt, wird ihr zweifellos einen gewissen musealen Charme attestieren können. Wenn man aber erfährt, dass dieses Denkmal aus dem Kaiserreich immer noch als (zweite) Halle für den regulären Sportunterricht genutzt werden muss, mag man dies kaum glauben. Allzu offensichtlich ist, dass die Baulichkeit den Anforderungen an einen modernen Sportunterricht nun wirklich nicht entspricht. Niemand wünscht einen Abriss – der Bau ist wirklich ein Schmuckstück! - aber der Wunsch der Schulgemeinde nach einem dringend erforderlichen Sporthallenneubau – in naher Zukunft! - ist mehr als angebracht.
Im Jahre 1925 setzte sich die Profilierung der Schule fort. Erstmalig wurde eine Obersekunda eingerichtet (nach heutigen Kategorien: die erste Klasse der gymnasialen Oberstufe), aus der Realschule wurde jetzt die Oberrealschule – eine Veränderung mit substanzieller Qualität. Wer die Oberrealschule absolviert hatte, erwarb nämlich das Reifezeugnis und konnte problemlos an den Universitäten studieren. Ostern 1929 legten die ersten Schüler die Reifeprüfung ab – deren Berufswünsche wurden vom damaligen Schulleiter Dr. Paalhorn notiert; sie signalisieren eindeutig: Absolventen dieser Schule können einen akademischen Beruf ergreifen! 8 Schüler wollten Mathematik / Naturwissenschaften / Technik studieren, 2 Medizin, 2 Neuere Sprachen, 5 wollten die Beamtenlaufbahn ergreifen.
Die Entscheidung war schulpolitisch höchst brisant gewesen, nicht alle Herforder hatten die Aufwertung der Lehranstalt begrüßt. Mit der Einrichtung der Oberrealschule war das Ausbildungsmonopol der alten Lateinschule, des Friedrichsgymnasiums, aufgebrochen. Die Vertreter des bildungsbürgerlichen Lagers fürchteten die Konkurrenz und sorgten sich sogar um den Bestand „ihrer“ Stammschule. Im Rat votierten sie teilweise vehement gegen diese Entwicklung, die größeren Kreisen der Bevölkerung Bildungschancen eröffnen sollte. Vermutlich ist es dem diplomatischen Geschick Dr. Otto Paalhorns, der die Realschule seit 1911 leitete, zu verdanken, dass sich im Rat dennoch eine Mehrheit fand. Paalhorn kam den Kritikern nämlich entgegen, indem er von dem weitergehenden Plan absah, die Realschule um das Angebot eines Zweiges mit 9 Jahren Lateinunterricht zu erweitern. Ein derartiges Realgymnasium hätte dem Friedrichsgymnasium in der Tat die Existenzfrage bescheren können. So erschien Paalhorns Plädoyer, die Realschule „nur“ zu einer Oberrealschule umzuwidmen, als ein Entgegenkommen und als kluger Kompromiss. Die weitere Entwicklung sollte zeigen, dass im Raum Herford genügend Bildungsreserven vorhanden waren, die beiden „Oberschulen“ ein auskömmliches Miteinander ermöglichen sollten.
Die Entscheidung für die Oberrealschule bedeutete auf jeden Fall einen Attraktivitätsschub, der schon 1929 zu einer Aufnahmebegrenzung führte, weil das Schulgebäude schlicht nicht mehr ausreichte, um alle Bewerber aufzunehmen. Fast sang- und klanglos bedeutete die Aufwertung zur Oberrealschule aber auch den Abschied von der alten Landwirtschaftsschule, die zur reinen Fachschule umgewandelt und ausgelagert wurde. Der allgemeine Bildungsauftrag einer Oberrealschule und der fachlich eher begrenzte Ausbildungsauftrag der Agrarschule hatten zu deutlichen Interessendivergenzen in der Schülerschaft und im Kollegium geführt, die unter dem Dach einer Schule nicht mehr auszugleichen waren. Dr. Paalhorns Eintrag im Jahresbericht für 1928 klingt geradezu wehmütig, wenn er schreibt: “Ein Stück Ravensberger Kulturgeschichte ist (...) zu Grabe gegangen.“
Nach dem Tod Dr. Paalhorns war im Jahre 1930 mit Dr. Heinrich Rüping eine beeindruckende Persönlichkeit zum Schulleiter geworden. Rüping galt als exzellenter Fachmann, der den sachlichen Ertrag der schulischen Ausbildung betonte. Zum Dritten Reich besaß er offenkundig eine spürbare Distanz (er wurde nie Parteimitglied in der NSDAP) – vermutlich nicht aus einer liberaldemokratischen Überzeugung heraus, sondern weil ihm die zahlreichen Einmischungen in den Schulalltag zuwider waren, weil er die Wissensvermittlung als Hauptaufgabe der Schule ansah und weil er die oft wenig gebildeten und sich pöbelnd verhaltenden Nationalsozialisten nicht als gleichberechtigte Gesprächspartner akzeptieren konnte. Große Teile des Kollegiums dachten wohl ähnlich, denn der Anteil der NS-Parteigenossen blieb vergleichsweise gering, aber dennoch war die Schule zu keiner Zeit ein Hort der Rebellion. Die Zahl der Lehrer, die in der „braunen“ SA-Uniform unterrichteten, blieb wohl durchgehend gering, auch begrüßte nur eine Minderheit die Schüler mit dem Hitlergruß. Aber die Inhalte der NS-Ideologie wurden vor allem in den Fächern wie Biologie (Rassenkunde) oder Deutsch (Aufsatzthemen) ohne erkennbare Einschränkung durchgesetzt. Als dritte Oberschule im Kreis (von 6 Schulen) erhielt sie die HJ-Fahne verliehen – als Auszeichnung dafür, dass 90% der Schüler Mitglied in der Hitler-Jugend waren. Im Schuljahr 1933/34 hatten noch drei jüdische Schüler die Anstalt besucht, sechs Jahre später hatte der letzte jüdische Junge die Schule verlassen. Ein offener Widerspruch der Schule ist in keinem Fall bekannt, im Großen und Ganzen funktionierte die Schule im Sinne des Systems. Nur wenn die eine oder andere Einmischung in den Unterricht als unzumutbar empfunden wurde, zeigte sich, dass mancher Gehorsam zähneknirschend erfolgte. So vermerkte Dr. Rüping im Jahresbericht von 1937 äußerst kritisch, dass er auf Geheiß der NS-Kreisleitung die Schüler aller Klassen am 27.9.1937 aus dem Unterricht nehmen musste, damit sie auf dem Bahnsteig des Herforder Bahnsteigs Spalier stehen konnten - Anlass war die Durchfahrt der Sonderzüge von Hitler und Mussolini. Beide dürften diese Gunstbezeugung aber kaum registriert haben, denn die Gardinen blieben zugezogen. Auch die Einführung der achtklassigen Oberschule im Jahre 1938 (Qualitätsverlust der Ausbildung) sowie die Betonung des Sportunterrichtes (Verzicht der Schule auf eine differenzierte Notengebung in den Teildisziplinen, etwa Boxen) sah Dr. Rüping offenkundig kritisch.
Im Jahre 1940 übernahm mit Dr. Paul Baesen ein langjähriges Mitglied der NSDAP die Schulleitung. Mit aller Vorsicht ist festzuhalten, dass mit seinem Direktoriat der Spielraum für einen liberalen oder auch nur politikfernen Unterricht geringer wurde. Mehrere ehemalige Schüler berichten rückblickend, dass sich die rassistische Ausrichtung verstärkte – auch hier bot die Schule ein Spiegelbild der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Die erklärten Befürworter des NS-Regimes gewannen nun an Einfluss, und die Inhalte der NS-Ideologie wurden stärker eingebracht. Der Unterricht in den letzten Kriegsmonaten konnte nur noch sporadisch erteilt werden. Der häufige Fliegeralarm, Zerstörungen am Schulgebäude durch den Luftangriff vom 9.11.1944 und die Zwangsverpflichtung zu Schanzarbeiten usw. nahmen dem Unterricht jede Kontinuität. Zwischen April 1945 und Februar 1946 ruhte der Unterricht ganz.
Bei Kriegsende wurde deutlich, dass die Schüler die Zeche zahlen mussten. Die gegen Ende des Reiches erworbenen „Notreifezeugnisse“ wurden nicht als Zulassung zu den Hochschulen anerkannt. Die Wissenslücken vieler Schüler erschienen den prüfenden Lehrern teilweise „grotesk“. In den ersten Nachkriegsjahren mussten mitunter mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs die Klasse wiederholen. Einige Schüler machten erst mit 21, 22 oder 23 Jahren ihr Abitur. Auch das Kollegium erfuhr Veränderungen. Der Schulleiter Dr. Baesen wurde suspendiert. Mehreren Lehrern, die sich als überzeugte Nationalsozialisten hervorgetan hatten, wurde Unterrichtsverbot erteilt. Sie mussten nun für die Allgemeinheit Dienste leisten, z.B. im Stuckenberg oder auf dem Homberg Holz fällen. Dem Augenschein nach dürften diese Umerziehungsmaßnahmen in allen Fällen höchst erfolgreich verlaufen sein, denn keiner der so bestraften Lehrer wurde auf Dauer aus dem Schuldienst entlassen. Im Gegenteil, die Resozialisierung war so gelungen, dass sie allesamt an die alte Schule zurückkehren konnten, wo sie unangefochten unterrichteten und sich nach einigen Jahren der Schamfrist auch auf Beförderungsstellen bewarben. Glaubt man den Berichten derjenigen Schüler, die in den 50er und 60er Jahren die Schule besuchten, kann die Umerziehung jedoch nicht in allen Fällen als gelungen bezeichnet werden. Wenn dies stimmen sollte, ist die Schule auch in dieser Hinsicht exemplarisch – wenn auch nicht vorbildlich.
Am 11. Februar 1946 wurde die Schule wieder eröffnet. Dr. Burchardt, unbelastet von jedem Verdacht einer Nähe zum NS-Regime, leitete die Schule in den nächsten Jahren – eine Schule, die schon wieder einen Namenswechsel erfuhr und sich nun „Oberschule für Jungen“ nannte. Unter schwierigsten Bedingungen unterrichteten zunächst 16, ab 1947 dann 19 Lehrkräfte die mittlerweile 450 Schüler.
Eine behütete, sorglose Kindheit und Jugend dürfte nicht einer dieser Schüler kennengelernt haben. Es muss eine eigenartige Lernatmosphäre gewesen sein: In den unteren Klassen saßen mindestens 50 oder 60 Jungen in viel zu engen Klassenräumen, die im Winter nicht oder kaum geheizt werden konnten, es gab so gut wie keine Schulbücher und nur wenig Papier. Der Hunger war für die meisten Kinder ein ständiger Begleiter. In der Schule trug man wochenlang die gleichen Hosen, das gleiche Hemd, die gleichen Schuhe. Da war es nur ein kleines Übel, dass aus Mangel an anderen geeigneteren Bällen das Völkerballspiel mit Medizinbällen gespielt werden musste. Die Nachmittage verbrachte man notgedrungen auf der Straße, denn die Wohnverhältnisse waren oft unzumutbar, an ein ruhiges Erledigen der Hausaufgaben war nicht zu denken. Dazu trat in vielen Fällen eine familiäre Situation, die nur als ungeklärt beschrieben werden kann. Viele Schüler hatten im Wortsinne nur ein Bild von ihrem Vater im Kopf, denn der war seit 1939 allenfalls kurz zu Besuch gewesen. Oft war der Vater gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft. Nur langsam normalisierte sich das Geschehen. Frühestens Ende der 40er Jahre kann man wieder von einem regulären und stabilen Unterrichtsalltag sprechen. So manche Turbulenz, die sich im Verhalten der heranwachsenden Jungen einstellte, mag man den äußeren Gegebenheiten zuschreiben, denen sich die „vaterlose Generation“ ausgesetzt sah. Angesichts der existenziellen Probleme, die von den Heranwachsenden gelöst werden mussten, darf kein Scheitern überraschen. Aber viele, die eigentlich keine Chance hatten, haben sie trotzdem genutzt. Klagen über Langeweile hatten keine Konjunktur, ein regelrechter Bildungshunger war deutlich spürbar - und dies zeigte sich nicht zuletzt in den Anmeldezahlen, die ständig anwuchsen.
Aber nicht nur die Schüler, auch die Lehrer und die „Höhere Schule“ insgesamt hatten ihre liebe Not mit der veränderten Lage und entsprechende Orientierungsprobleme. Der einleitende Satz aus der Stellungnahme der Direktoren und Direktorinnen der Höheren Schulen von Ostwestfalen und Lippe an das Kultusministerium im Jahre 1948 sei hier stellvertretend zitiert: „Grundsätzlich: Was die höhere Schule z.Zt. am nötigsten braucht, ist Ruhe“ (Ordner B. 4, ohne Signatur). Für alle Schulen, auch für unsere, war es nun vordringlich, die Phase der Unsicherheit zu überwinden und angesichts der neuen demokratischen Rahmenbedingungen eine überzeugende pädagogische und fachliche Ausrichtung zu gewinnen. Als wegweisend erwies sich die von Burchardt vorangetriebene Entscheidung, nicht auf die Karte einer Spezialisierung zu setzen, sondern gleich zwei Karten auszuspielen. Die Zahl der Schüler war mittlerweile so groß, dass man durchgehend doppelzügig werden konnte, d.h. auf jeder Klassenstufe waren zwei Parallelklassen möglich. Dies erlaubte, ein Wahlangebot vorzulegen: Eine einheitliche Unterstufe (bis Quarta bzw. Untertertia, also bis Jahrgangsstufe 7 bzw. 8) bildete das Fundament für alle Schüler, dann aber konnte man nach Neigung und Interesse entscheiden, ob man den sprachlichen Zweig mit Französisch als weiterem Hauptfach oder den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig mit Physik als weiterem Hauptfach besuchen wollte. Die Herforder Bevölkerung erkannte die Chancen eines solchen Wahlangebotes schnell. Beide Zweige wurden in den Folgejahren ungefähr gleich gewählt, und immer mehr Jungen wurden für die Anfangsklassen angemeldet. Nur mit dem neuen, dem mittlerweile 5. Namen unserer Schule, tat man sich schwer: Neusprachliches und mathematisch-naturwissenschaftliches Gymnasium Herford – das wollte und konnte in der Region kaum jemand unfallfrei aussprechen.
Wie die Schulgeschichte andeutet, fühlt sich die Schule der Region verbunden – dies schlägt sich in dem Ruf nieder, das „Ravensberger“ sei eine Schule mit Bodenhaftung, die sich nicht scheut, der Übernahme visionärer Experimente eine kritische Tauglichkeitsprüfung voranzustellen, bevor man das Bewährte über Bord wirft.
Auf der andere Seite zeigt die Schulgeschichte die offene Haltung gegenüber neuen Anforderungen, sodass eine produktive Grundstimmung prägend ist – im Interesse einer möglichst optimalen Förderung der Schülerschaft.